Montag, 29. April 2013

Unsichtbare Schreie im Birkenwald

Das Ruhrgebiet. Eine graue Betonwüste mit nur wenigen, idyllischen grünen Inseln. War es ein mal. Heute ist es ein grün-grauer Erlebnispark mit Kultur, Industrie und besonderen Menschen. Und mit einzelnen, kleinen Wäldern, die für die gestressten Städter ein Erholungsort sind. Eine Metropole wie sie im Reisekatalog steht. Man sollte meinen, wo es so viele Menschen gibt wie im Ruhrgebiet kann nichts passieren. Dort ist alles sicher, abgesehen von den üblichen Kleinkriminellen. Alle Orte sind bekannt, überblickt. Falsch!
Was ich euch jetzt erzähle, ist wirklich so geschehen, ob ihr es mir glaubt oder nicht. Dies ist die pure, haarsträubende Wahrheit und ich wünsche jedem einzelnen von euch, dass ihr nicht in die gleiche Situation kommt wie ich.

Es war das Jahr 2002, kurz nach meinem 8. Geburtstag. Mein damaliger bester Freund und ich hatten damals eine aufregende Zeit. Wir waren gerade so alt, dass unsere Eltern uns erlaubten, alleine auch weiter weg zu gehen. Und wir waren gerade so jung, dass wir uns nicht so viele Gedanken um die Folgen unserer Handlungen machten. So waren wir, auf der Suche nach erlebnisreichen Tagen schon des öfteren zu spät nach Hause gekommen, schon oft litten unsere Hausaufgaben darunter. Wir lebten nämlich in einem Teil vom Ruhrgebiet, in dem nicht viel los war. Außer ein paar alten Bergbausiedlungen gab es nicht mehr viel. Das meiste, was von der damaligen Kohlezeit zeugte, wurde abgerissen. Die Zechentürme, die Zechenbahnen und natürlich auch die alten Zechengebäude, sofern sie nicht als Einkaufzentrum dienten. Für Kinder unseres Alters gab es nicht viel, außer ein paar Sandkästen zwischen den Reihenhäusern. Daher mussten wir Kinder der vor-Smartphone-Zeit immer improvisieren, um Spaß zu haben.
Einer unserer häufigsten Spielplätze das Gelände der ehemaligen Zeche König-Ludwig. Dort, wo früher die Zechenbahn fuhr, führte zu der Zeit ein Radweg entlang, der bei schlechtem Wetter aber kaum genutzt wurde. Rechts und links war der Radweg von Ruinen und Mauern gesäumt. Eine alte Werkstatt, ausgebrannt, deren Reste vor sich hinrosten. Auf der anderen Seite ein Gebäude das überlebt hat, nun als Diskothek dient.
Weiter den Radweg entlang wurden Kunstwerke aufgestellt, um die Region mit Touristen wiederzubeleben. Direkt daran angrenzend, auf einer Fläche, die zur Kohlezeit als Güterbahnhof diente, wuchs seit Ende der Kohle ein noch junger Birkenwald. Dieser war, im Gegensatz zu den Parkanlagen, die den Obdachlosen als Treffpunkt dienten, für Kinder zum Spielen geeignet, da niemand da ist, der einem etwas antun kann. Dachten wir. Dennoch verrieten wir unseren Eltern nicht wo wir hingehen.
Als wir, mein Freund und Ich, den Wald das erste Mal für uns entdeckten, waren wir begeistert von seinem Erscheinungsbild. In dem Wald gab es Kletterbäume, dichtes Unterholz zum Verstecken und sogar einen Bach, der allerdings einbetoniert war, weil er früher die Abwässer der Zeche in die Emscher geleitet hat. Die „Eltern haften für ihre Kinder“ - und „Das Betreten der Anlage ist mit Gefahren verbunden und nicht erlaubt“ - Schilder, die am Bach aufgestellt waren, haben uns wenig gestört.
Dieser Wald, und alles was dazu gehört, war wie ein Abenteuerspielplatz für uns.
Als es Abend wurde und wir nach Hause mussten, beschlossen wir diesen Wald bald wieder  aufzusuchen, nächstes Mal aber wollten wir noch ein paar Freunde mitbringen. Je mehr Freunde, umso mehr Spaß hat man.

Am nächsten Tag haben wir in der Schule einigen von dem Wald erzählt, und so passierte es, dass wir nach dem Mittagessen zu siebt losgegangen sind, um in den Wald zu gehen.
Es war noch besser als am Tag vorher, da wir jetzt eine größere Gruppe waren. Wir wollten ein Indianerzelt aus Stöcken bauen, die wir tipiförmig in den Boden steckten, und mit Laub bedeckten, um dort eine Art eigenes Haus zu haben. Es sollte aber noch größer werden als ein normales Tipi.
Es war eine dieser typischen Kinderfantasien. Ein eigenes Haus oder eine eigene Höhle bauen, abseits des Elternhauses, wo man seine eigenen Regeln hatte und viel Zeit mit Freunden verbringen konnte. Bereits vorher haben wir solche Pläne gehabt, doch weder der elterliche Garten, noch der Park, wo das Bauwerk direkt nach Verlassen von anderen Kindern zerstört wird, waren geeignet. Dieser Wald erschien uns eine dauerhafte Lösung.
Das Bauen des Tipis hat einiges an Zeit in Anspruch genommen. Wir hatten keine Säge dabei um Äste abzusägen, also konnten wir nur welche verwenden, die auf dem Boden lagen. Es war eine mühsame Arbeit so viele zusammenzusuchen, um ein Unterschlupf zu bauen, wo wir alle zusammen Platz hatten. Aber solange wir mit Freunden zusammen waren, war uns dies egal. Wir wollten nur unser Tipi haben.
Als es halb 7 war, beschlossen wir nach Hause zu gehen, damit unsere Eltern nicht anfangen zu schimpfen wie sie es schon viele Male vorher taten. Hausarrest wäre in der Situation eine doppelte Bestrafung. Das Tipi war noch lange nicht fertig, wir hatten erst die Hälfte der Äste zusammen, also wollten wir am nächsten Tag weiter machen und dafür hätten wir jede unserer Hände gebraucht.
Wir gingen nach Hause und brachten jeden einzelnen bis zur Haustür, wir wir es immer taten. Eine Anweisung unserer Eltern, möglichst viel in der Gruppe unterwegs sein. Dann würde weniger passieren können. Am Ende waren nur noch mein bester Freund und ich übrig. Mein Haus war näher als seines, also gingen wir zuerst zu mir. Ich verabschiedete mich von ihm und ging in die Wohnung. Solche Abschiede waren damals immer traurig für mich. Nach einem spaßigen Tag zurück in die  langweilige Zeit mit den Eltern. Zum Glück sollte es diesmal nur eine Nacht sein, da keiner von uns zu spät zuhause sein würde. Es waren noch etwa 150 Meter bis zu seiner Wohnung, keine Strecke, für die man 10 Minuten braucht.
30 Minuten später: Ich war bereits im Schlafanzug und aß gerade zu Abend. Da klingelte das Telefon. Meine Mutter ging ran. Am anderen Ende war die Mutter meines besten Freundes, sie wollte wissen, ob ich weiß wo er sei. Ich nahm das Telefon von meiner Mutter und sagte ihr, dass er vor einer halben Stunde nach Hause gegangen ist. Von dem, was wir am Tag erlebt haben, habe ich nichts gesagt. Ich wusste ja wie meine Mutter auf solche „Abenteuerspielplätze weit von zuhause entfernt“ reagieren würde.
Sie legte schließlich auf, und ihr „tschüss“ klang so, als würde sie anfangen zu weinen.
Ich machte mir keine Sorgen, ich war ja erst acht, da denkt man nicht, dass was passieren könnte.

Am nächsten Tag in der Schule blieb sein Platz leer. Meine anderen Freunde waren da. Wir dachten einfach nur, dass er krank ist. Sowas passiert schließlich. Nach der Schule wollten wir bei ihm vorbei, gucken wie es ihm geht.
In der dritten Stunde, wir hatten gerade Sachkunde, kam die Polizei in die Klasse.
In dem Moment dachte ich sofort, dass sie wegen ihm hier sind.
Sie sagten, dass er verschwunden ist und sie ihn suchen. Sie fragten uns, ob wir nicht irgend eine Idee haben, wo er sein könnte. Ich wollte den Polizisten gerade sagen, dass wir gestern im Wald waren und ein Tipi bauten, aber einer meiner Freunde hielt meinen Arm fest und flüsterte mir ins Ohr, dass es besser wäre wenn wir nach der Schule selbst nach ihm suchen. Sonst würden unsere Eltern uns noch verbieten wieder in den Wald zu gehen.
Es war dieser jugendliche Leichtsinn, den Polizisten es nicht zu erzählen. Wir  konnten uns einfach nicht vorstellen, dass irgendetwas schlimmes passiert sei. Wir dachten, er ist im Wald und baut das Tipi allein zu Ende.
Als die Schule endlich aus war, gingen wir, ohne vorher nach Hause zu gehen, zum Radweg, vorbei an der Ruine, vorbei an den Kunstwerken und weiter in den Wald. Dort, wo unser Tipi stand, stand nun ein normales Zelt, wie es sicher jeder schon mal beim Camping benutzt hat. Wir liefen sofort dahin in der Hoffnung ihn dort zu finden. Über die plötzliche Herkunft des Zeltes machten wir uns keine Gedanken. Ich erreichte das Zelt als Erster und schaute hinein, aber es war leer. Fast leer. Es waren nur eine Luftmatratze, eine Decke und, ich erschrak, die Mütze von meinem besten Freund im Zelt. Die Mütze, die er am Vortag nicht bei sich hatte, die ich aber im vergangenen Winter mehrfach auf deinem Kopf gesehen habe. Ich hob die Mütze hoch. Sie war schwer. In ihr war ein Stück Metall. Ein rotes Metall... Ich schaute genauer hin. Es war eine kleine Säge. Blutverschmiert, wie die ganze Innenseite der Mütze.
Ich schrie und sprang aus dem Zelt, die Säge und die Mütze gegen den nächsten Baum schleudernd. Die Anderen schauten auf die Säge und sahen sofort das Blut. Entsetzen lag in ihren Augen. In meinen wahrscheinlich auch. So etwas kannten wir nur aus unseren Albträumen.
Kurz darauf hörten wir seine Stimme, sie drang aus dem Teil vom Wald, der dem Radweg entgegengesetzt liegt. Sie rief meinen Namen, immer wieder, teils rufend, teils schreiend.
Ohne groß zu zögern folgten wir der Stimme tiefer in den Wald. Aber sie wurde nicht lauter. Wir kamen anscheinend nicht näher heran. Wir liefen eine ganze Weile, bis wir den Bach überquerten. Dort wurde die Stimme plötzlich laut, und aus ihr wurde ein Mark erschütternder Schrei, als wenn man ihm mit einer Säge... Nein, nicht das schlimmste vorstellen! Wir riefen ihn, wo er ist, was passiert, aber es kam nur ein weiterer Schrei zurück. Wir rannten, weiter in den Wald. Dann plötzlich stürzte der Boden unter uns ein. Wir fielen in einen unterirdischen Hohlraum, zwei bis drei Meter tief  und schlugen auf einen harten Betonboden auf. Ich blieb unverletzt, aber ich war natürlich geschockt. Ich erkundigte mich bei den anderen wie es ihnen geht. Auch sie blieben unverletzt, auch wenn ein schwerer Schock in ihrer Stimme lag. Wir schauten uns um. Es war ein Hohlraum, so groß wie eine Sporthalle, soweit wir sehen konnten. Die einzige Lichtquelle war das Loch, durch das wir gefallen sind. Es roch nach Benzin. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass dies ein Benzinlager der Zeche war.
Wir hatten alle Panik, wir waren eingeschlossen, konnten so gut wie nichts sehen, und hörten immer noch seine Schreie, und sie wurden immer lauter. Dort unten war er nicht, so gut es bei dem Licht erkennbar war. Nur wir waren da.
Ich versuchte, die anderen zur Ruhe zu bringen. Es musste einen weg hinaus geben. Doch es war keiner zu finden. Rechts und Links nur Betonwände ohne Öffnungen, ohne Türen. Es blieb nur ein Ausweg: Nach oben! Zum Glück waren wir alle sehr sportlich. Wir kletterten jeweils auf die Schulter des anderen und bildeten so einen Turm nach oben. Ich war der Leichteste, also ging ich nach ganz oben. Es war sehr wackelig aber der Turm hat trotz der Angst, der zitternden Beine gehalten. Bis ich an die Öffnung kam. Ich kletterte raus und genau in dem Augenblick, als sich mein Fuß von der Schulter des anderen löste, hörte ich unter mir den Turm einstürzen. Einer der fünf hatte sich dabei offensichtlich den Arm gebrochen, er weinte. Ich schrie runter, dass ich Hilfe holen gehe und wiederkomme. Auf jeden Fall.
Ich rannte los, wusste aber nicht wohin. Nach Hause, zu meinen Eltern, zur Polizei? Hauptsache Hilfe holen. Nach etwa 30 Metern blieb ich stehen. Ich hörte Schreie. Nicht den meines besten Freundes, diese waren schon vor Minuten verstummt, sondern Schreie der Anderen. Außerdem noch das Klirren von Metall. Es hätte eine Kette sein können, auch ein Schlüsselbund vielleicht. Aber das Positive Denken hatte ich schon aufgegeben. Ich lief zurück zum Loch und fragte, was los sei. Keine Antwort kam.
Ich fragte nochmal.
Keine Antwort.
Ich rief ihre Namen und merkte, wie ich anfing zu heulen. Meine Albträume wurden wahr.
Die vorher noch scheinende Sonne, die den Innenraum des Tankes zumindest ein wenig erleuchtete, versteckte sich nun hinter einer Wolke. Es war nur noch ein kleiner Fleck Beton zu erkennen. Keine Menschen waren zu sehen, keine menschlichen Geräusche mehr zu hören. Stille, nur ein seltsames, schleifendes Geräusch drang aus der dunklen, nach Benzin riechenden Kammer.
Ich rannte, rannte so schnell ich konnte. Sofort zur Polizei. Die Wache war näher als mein Haus.
Ich erzählte den Polizisten die Geschichte. Jedes Detail. Und ich merkte, wie seltsam die Geschichte war. Überraschenderweise glaubten sie mir und sie riefen die Feuerwehr und den Notarzt und wir fuhren zusammen zurück. Dort trafen wir auf die Rettungskräfte. Ich zeigte ihnen den Weg zum Loch.
Auf dem Weg dahin sah ich, dass Zelt und Säge mitsamt der Mütze verschwunden waren, aber das war in dem Moment nur Nebensache.
Als wir das Loch erreichten, stieg die Feuerwehr mit Seil und Taschenlampe hinab.
Als sie wieder hoch kamen, sagten sie, sie hätten niemanden gefunden. Der Tank hatte keine weitere Öffnung, also konnten sie keinen anderen Weg hinaus genommen haben. Das einzige, was die Feuerwehr mit nach oben brachte, war eine kleine, blutverschmierte Säge.
Die Polizei suchte noch wochenlang nach meinen Freunden. Ohne Erfolg. Keine Leiche, keinen Leichenrest. Nichts.
Es konnte nie geklärt werden, was passiert ist. Im Tank wurde nach Spuren vom Täter gesucht. Es wurden aber nur Spuren vom sieben Kindern gefunden.
Ich wollte es ab dann auch gar nicht wissen, was genau passiert ist.
Nach dieser Geschichte begab ich mich für zwei Jahre in psychologische Behandlung um dieses Schockerlebnis zu verarbeiten. Aber die Albträume plagen mich immer noch. Ich höre ihre Schreie aus einem dunklen Loch kommen. Wie sie meinen Namen rufen.
Ein Jahr nach dem Vorfall zogen wir ins Münsterland, weit weg vom Ort des Geschehens. Ich bin auf eine andere Schule gegangen und dann auf ein Gymnasium. Jetzt mache ich mein Abitur. Eins habe ich in der Zeit gelernt: Ich werde nie wieder in diesen Wald zurückkehren.

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