Dienstag, 30. April 2013

Unsichtbare Schreie im Keller


Es ist knapp zehn Jahre her. Es stand überall in den Zeitungen, auch in den Bundesweiten Nachrichten wurde ein Bericht gebracht. Dies war wohl das schrecklichste Ereignis, welches Recklinghausen seit dem 2. Weltkrieg erlebt hat. Die ganze Stadt war geschockt. Niemand hätte auch nur ansatzweise damit gerechnet, dass so ein schreckliches Verbrechen hier in unserer sonst so verschlafenen Stadt überhaupt möglich ist.
Aber am schlimmsten war es wohl für den Überlebenden und für die Eltern der Opfer. Ich denke kein Mensch der Welt wünscht sich, oder seinen schlimmsten Feind, ein ähnliches Schicksal.

Bis vor ein paar Wochen hatte keiner eine Erklärung für diese Ereignisse. Es wurden keine Leichen und keine Hinweise auf einen Täter gefunden. Keine Fingerabdrücke, keine Fußspuren, nichts! Die Ermittler suchten den ganzen Wald ab, befragten über Jahre hinweg Zeugen. Nichts! Aber dann, zwei Wochen nachdem das bis dahin gesperrte Zechengelände und der dazu gehörende Radweg, sowie der Birkenwald wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, fand ein Spaziergänger in dem Wald, nur wenige Meter vom Tatort erntfernt, eine Säge. Diese übergab er sofort der Polizei, da er als eingefleischter Recklinghäuser mit dem Fall bestens vertraut war. Wie sich herausstellte, war es die richtige Entscheidung. Eine Gruppe Polizisten durchsuchte daraufhin erneut das Waldstück, wo die Säge gelegen hat, und fand, nur wenige hundert Meter neben dem alten Benzintank, ein Zelt. In dem Zelt lagen Fotos von einem achtjährigen Jungen. Dieser lag auf dem Boden in einem Raum, offensichtlich ein Keller. Man konnte dem Jungen seine Furcht ansehen. Er weinte vor lauter Todesangst. Die Polizisten erkannten sofort, dass es sich bei dem Jungen um eines der Opfer von vor zehn Jahren handelte.
Dieser Fund war eine Sensation. Es bedeutete, dass der Täter zum Ort des Verbrechens zurückgekehrt ist, und eventuell Jagd auf sein nächstes Opfer macht. Und damit auch endlich wieder fassbar war. Der Hauptkommissar, der mit dem Fall beauftragt war, wusste, dass er ein weiteres Verbrechen verhindern kann. Er beschloss dem Täter eine Falle zu stellen.
Am nächsten Tag ging er in den Birkenwald, der absichtlich nicht abgesperrt wurde, und stelle sein Zelt auf halben Weg zwischen Tank und den Ort, wo das Zelt des Täters gefunden wurde, auf. Dieses wurde im Zuge des Planes von der Polizei nicht beschlagnahmt. Es blieb dort stehen. Zumindest bis zum nächsten Morgen. Dort war es erneut verschwunden.
Der Hauptkommissar weihte nur wenige Kollegen in den Plan ein, da er befürchtete, dass man ihn davon abhalten wollen würde. Auch die Presse wurde nicht informiert, da der Täter nichts ahnen sollte. Er sagte seinen Kollegen, dass sie ihm dort zwei Tage alleine lassen sollen. Er nahm nur Schlafsack, Dosennahrung, seine Dienstwaffe, Handschellen und ein Funkgerät mit, mit dem er im Notfall seine Kollegen hätte rufen können. Außerdem führte er ein Tagebuch, in dem er alle Ereignisse notierte.

„Freitag, 14.30 Uhr:
Ich möchte den Mörder finden. Dafür bleibe ich zwei Tage in dem Wald der unsichtbaren Schreie. Gestern wurde nach zehn Jahren des Rätselratens das Zelt des Mörders hier im Wald entdeckt. Daraufhin beschloss ich mich für 48 Stunden hier auszuhalten, da ich hoffe, dass sich der Psychopath zeigt, und ich endlich diesen Fall lösen kann.
Mein Zelt steht in einem Dicht bewachsenen Teil des Waldes, nahe dem Fundort und dem Tatort. Hier dürfte mich kein Spaziergänger entdecken. Nach dem Verbrechen trauen sich sowieso nur noch die mutigsten in den Wald.
Ich habe ausreichend Wasser, Nahrung und die wichtigste Ausrüstung dabei. Da es Sommer ist, dürfte die Kälte kein Problem werden. Ich bin zuversichtlich, dass der Täter bald hinter Gittern sitzt.

Freitag, 18.30 Uhr: Es ist jetzt Halb 7. Um diese Zeit hat sich der Täter damals sein erstes Opfer geschnappt. Ich sitze jetzt draußen vor meinem Zelt und schaue mir die friedliche Natur an. Kaum zu glauben, dass in diesem schönen Wald so etwas passieren konnte. Ohne dieses Verbrechen könnte dies ein perfektes Naherholungsgebiet werden. Für Familien, und Kinder...
Vom Täter war noch nichts zu sehen. Die einzigen Menschen die ich sah waren ein Pilzsammler mit seinem Hund und zwei Jungen, die hier vorbei liefen. Keiner von ihnen erkannte mein gut getarntes Zelt. Aber für die Kinder gab ich meine Tarnung auf. Ich sagte ihnen, dass es gefährlich ist, wenn sie hier alleine rumlaufen und dass sie besser woanders spielen gehen sollten. Sie waren ziemlich erschrocken als ich aus dem Gebüsch kam und gehorchten mir sofort. Sie wussten anscheinend nichts von dem Verbrechen und es ist meine Pflicht als Polizist sie vor Übergriffen zu schützen.
Es ist Abend und ich habe Hunger. Ich werde jetzt eine Portion Ravioli essen, um meine Sinne zu schärfen.

Freitag, 22.00 Uhr: Die Sonne ist untergegangen. Ich sitze im Licht der Taschenlampe in meinem Zelt. Aber an Schlafen ist nicht zu denken. Ich bin hier um Tag und Nacht zu suchen. Wenn der Täter heute Nacht hier vorbei schleicht, werde ich ihn stellen.

Samstag, 06.00 Uhr: Ich habe verschlafen! Kurz nach drei konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Ich weiß nicht warum, normalerweise passiert mir dies nicht. Gerade eben bin ich aufgewacht, weil die Vögel draußen mit den ersten Sonnenstrahlen ihr Lied beginnen. Ich ging vor das Zelt und traute meinen Augen nicht: Dort lag eine Säge. Das heißt, der Täter ist heute Nacht an meinem Zelt vorbeigeschlichen und ich habe ihn verpasst. Aber was hat die Säge zu bedeuten? Will er mich warnen? Will er mich verscheuchen? Was denkt dieser Irre?
Ich werde mich nicht davon abbringen lassen, ich werde hier bleiben. Angst brauche ich nicht zu haben. Vielleicht weiß er es nicht, aber ich habe auch eine Waffe. Pistole gegen Säge, der Sieger dürfte klar sein. Wenn er hier reinschaut und mein Schuss ihn nicht umbringt, darf er sich auf ein Leben hinter Gittern freuen. Aber es darf nicht noch einmal passieren, dass ich einschlafe, daher werde ich mein Zelt kurz verlassen, um mich mit Koffein einzudecken. Zum Glück ist Lidl gleich nebenan. Damit nichts geklaut wird, werde ich meine Sachen mitnehmen. Aber vorher gönne ich mir noch ein kleines Frühstück.

Samstag, 14.00 Uhr: Der rote Stier wirkt. Ich bin hellwach, obwohl ich in der Mittagshitze normalerweise immer ein  wenig träge bin. Aber meine Sinne sind hellwach.
Heute ist noch mehr los. Das Wetter ist perfekt für einen Waldspaziergang. Scheinbar ignorieren diese Menschen die Gefahr, die hier immernoch vorhanden ist. Oder es sind Touristen, die den Wald nicht kennen.
Auf jeden Fall wurde mein Zelt entdeckt. Es war eine Frau, Mitte 40, mit ihren Kindern. Sie hielt mich erst für einen Penner, aber ich erklärte ihr, dass ich hier Ermittlungsarbeit leiste. Details habe ich ihr natürlich nicht genannt. Ich bin gespannt wen ich heute noch treffe. Hoffentlich ist es der Mörder. Oder eher gesagt, das Opfer?

Samstag, 20.00 Uhr: ER WAR DA! Ich hätte ihn fast erwischt. Er stand knapp 20 Meter vor mir. Er war etwa 1.85m groß, hatte schwarze Haare, rotes T-Shirt und schwarze Hose an. Er lachte mich durch seine Sonnenbrille an und deutete mit einer Säge auf mich. Als ich meine Waffe zog rannte er weg. Ich lief hinterher, schoss ein paar mal, verfehlte ihn aber immer. Warum bloß? Das passiert mir sonst nicht. Er war wesentlich schneller als ich, so dass ich ihn nach einer Minute aus den Augen verloren habe. Er ist offenbar über den Radweg geflüchtet. Immerhin: So wurde er vielleicht von Zeugen beobachtet.
Es ist dennoch scheiße. Ich hätte meine Waffe immer in Griffweite lassen sollen. Dann hätte er nicht die Zeit gehabt zu rennen, dann wäre dieses Schwein erledigt.
Ich hoffe, dass ich durch meine Schüsse keine ungebetenen Gäste angelockt habe. Aber meine Waffe ist zum Glück nicht so laut.
Es war auf jeden Fall ein erstes Erfolgserlebnis. Der Killer ist hier, und ich bin ihm auf den Fersen. Wenn er heute Nacht zurückkommt, dann ist er dran. Das schwöre ich!

Sonntag, 03.00 Uhr: Was ist passiert? Wo bin ich? Wie komme ich hier her?
Ich bin gegen Mitternacht ganz überraschend eingeschlafen und gerade eben hier aufgewacht. Es sieht auf wie ein Keller. Es ist eng hier und die Tür ist verschlossen. Fenster gibt es nicht. Hier in dem Keller liegt die Leiche eines Mädchens. Etwa 8 Jahre alt. Ihre Arme und Beine wurden abgesägt. Überall um sie herum klebt ihr vertrocknetes Blut und es liegen überall Knochen herum. Wahrscheinlich Knochen von früheren Opfern. Ich bin kein Mediziner, aber ich denke es sind mehr als die Knochen von sechs Menschen.
Ich habe Angst. Ich habe nur meine Taschenlampe, dieses Buch und den Stift mit dem Ich schreibe! War er es? Wo hat er mich hingebracht und wie überhaupt? Das letzte was ich weiß ist, dass ich vor dem Zelt gelesen habe. Und dann: Liege ich hier. Wieso hat er mir das Buch gelassen?
Ich denke er will dass ich dies hier schreibe.
Was hat er mit mir vor? Werde ich auch einen Tod wie die anderen armen Menschen erleiden?
Um 12 Uhr kommen meine Kollegen in den Wald und werden erkennen, dass ich nicht da bin. Ich bete zu Gott, dass sie mich hier finden, wo auch immer ich gerade bin.

Sonntag, 12.30 Uhr: Wieso das alles? Wieso habe ich das gemacht. Gerade hat mein Entführer einen Zettel unter der Eisentür durchgeschoben. Dort steht, dass ich 30 Minuten Zeit habe eine Abschiedsbrief zu schreiben.
Ich habe schreckliche Angst. Ich kann nicht klar denken. Was wird er mit mir machen? Wieso musste das passieren. Und was hat er danach vor?
An meine Kollegen: Solltet ihr diese Nachricht irgendwann lesen, möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich so... so verrückt war zu denken, ich könne ihn alleine fassen. Ich war dumm und muss diese Dummheit wahrscheinlich mit meinem Leben bezahlen. Bitte! Macht nicht den gleichen Fehler wie ich. Sperrt alles ab, wo diese Morde passieren, sonst kommt er wieder. Er wird noch mehr Menschen ermorden! Kinder sind in Gefahr!
An meine Familie:...“


„Sonntag, 13.30 Uhr:
An die Polizei: Euer Kollege war stark. Er hat ganze 20 Minute überlebt. Aber dann musste auch er dran glauben. Seit so schlau und geht mir in Zukunft aus dem Weg. Nehmt den Fehler eures dummen Kollegen als Warnung.
Mich kriegt ihr nicht! Ich bin der Meister, und ihr seid meine Marionetten!
Die sieben Teile, die von eurem Kommissar noch übrig sind, werden es euch sagen können, wenn sie nicht tot wären.“


Dieses Tagebuch kam drei Tage später mit einem Paket im Polizeirevier Recklinghausen an. Mit dabei: Die Säge und ein Finger.
Die Polizei sperrte den Wald daraufhin weiträumig ab. Es sollte eine weitere Tragödie vermieden werden. Das Opfer des tapferen Hauptkommissars hat nicht nicht gelohnt. Mehr als die Größe und die Haarfarbe des Täters kennt keiner. Es gab keine Zeugen und keine Spuren. Das Zelt und alle anderen Sachen des Kommissars wurden nie gefunden.
In den Zeitungen wurde nach dem Täter erneut gefahndet. Erfolglos.
In den Wochen danach wurden an weiteren Orten in Recklinghausen Sägen entdeckt. Es gab weitere Opfer.
Der Killer ist weiterhin unterwegs. Die Polizei tappt weiter im dunkeln. Wahrscheinlich auch, weil sie Angst haben das Licht anzumachen.

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