Dienstag, 11. Juni 2013

Die Karte


Das Leben in Berlin bietet einem Menschen viele Möglichkeiten. Möglichkeiten, die man in vielen anderen Städten von Deutschland nicht hat. Zum Einen ist es die Größe dieser beeindruckenden Stadt, die einem als Einzelnen doppelte Chancen gibt. Versagst du an einem Ort, gehst du ein Stadtteil weiter. Die vielen Menschen sorgen nicht nur dafür, dass du viele Kontakte knüpfen kannst und fremde Kulturen kennen lernst, sondern auch, dass du viele Einnahmequellen hast. Wenn ein Mensch dir nichts bringt, gehst du zum Nächsten. 
Mein aktueller Arbeitsplatz ist der Alexanderplatz. Ich arbeite dort als Taschendieb. Diese Methode Geld zu verdienen habe ich von meinem Onkel beigebracht bekommen. Er hat damit zu seiner besten Zeit mehrere tausend Mark die Woche gemacht, was ihn ein fast-luxuriöses Leben in Berlin ermöglichte. Und er wurde nie erwischt. Nie hat er eine Anzeige bekommen, nie hat er ein Gefängnis von innen gesehen. Er ist ein wahrer Meister dieser Branche.
Als ich mit elf Jahren nach dem Tod meiner Eltern zu ihm kam, hat er schnell mein Potential erkannt und mich ausgebildet. So konnte ich mit 16 die Schule abbrechen und arbeite nun schon seit sieben Jahren vollzeit mit ihm zusammen. Auch ich wurde noch nie erwischt. Zumindest nicht in den letzten Jahren. In meiner Anfangszeit bin ich beim Üben mehrfach auf die Nase gefallen. Aber kein Gericht der Welt steckt ein Kind in den Knast. Daher konnte ich bis jetzt nahezu ungestört arbeiten.
Auch heute bin ich wieder am Alex unterwegs. Es ist einer der besten Plätze in Berlin, das hat mein Onkel schon früh erkannt. Die beste Zeit ist ein Freitag Nachmittag, wenn die Menschen von der Arbeit kommen, unvorsichtige 14 jährige shoppen wollen oder Menschen einfach Freunde treffen wollen. Das sonnige, sommerliche Wetter lockt noch mehr Menschen ins Freie. Eis- und Bratwurstverkäufer laufen über den Platz und ziehen die Massen an.
Ich gehe den Platz auf und ab, unauffällig, immer auf der Hut, dass mich niemand länger als 5 Sekunden beobachtet. Vor allem kein uniformierter. 
Ich trage einen Anzug mit Krawatte, trage dunkle Schuhe und dunkle Hosen. So sehe ich aus wie ein Geschäftsmann. Niemand unterstellt mir etwas. 
Auf der Suche nach dem ersten Opfer des Tages, fallen mir zwei übermütige Jugendliche auf, die versuchen von hinten an die Handtasche einer Frau zu gelangen. Sie werden natürlich erwischt. Die Frau schreit hysterisch auf und die Halbstarken flüchten in den U-Bahnhof. 
“Amateure!”, denke ich und grinse vor mich hin. Dann sehe ich einen Mann, der in der Schlange des Bratwurstverkäufers steht. Seine Jeanstasche scheint viel zu klein für seine Geldbörse. Sie guckt zur Hälfte raus, bei der kleinsten hastigen Bewegung fällt sie auf den Boden. Perfekt. Ziel erfasst. 
Der Verkäufer steht direkt neben dem Eingang zur U-Bahn. Ich warte 50 Meter entfernt auf einer Bank, bis der Mann seine Wurst hat und sein Geld wieder unzulänglich in der Jeans verstaut ist. Dann geht es los. Ich schaue auf die Uhr und spurte zum Bahnhof. Die Menschen um mich herum beachten mich kaum. Ich bin nicht der erste Geschäftsmann, der seine U-Bahn zu verpassen droht. Auf den Weg dahin stoße ich sanft mit dem Bratwurstesser zusammen. Meine Finger sind blitzschnell, noch bevor ich mich kurz und aufrichtig bei dem Mann für meine Ungeschicktheit entschuldige, ist sein Geld in meiner Anzugtasche verschwunden. Ich renne weiter nach unten und beachte den Mann hinter mir nicht mehr, suche mir die nächste U-Bahn und steige ein. 
Nach drei Stationen steige ich aus und zeige dem Schaffner auf dem Weg nach draußen noch meine Monatskarte. Ein wichtiges Arbeitsutensil für diesen Job.
Wieder auf der Straße setze ich mich an der nächsten Bushaltestelle auf die Bank und begutachte meine Beute. Hundertdreißig, hundertvierzig Euro. Nicht schlecht für sechzig Minuten Arbeit.  Aber es geht noch mehr. Daher steige ich in den nächsten Bus zum Alex und fahre zurück. Ich gehe nicht direkt wieder auf den Platz, sondern erst ins Alexa, wo ich auf der Besuchertoilette die Geldbörse und die Papiere des Mannes verschwinden lassen, und das Geld in meiner eigenen verstauen kann. Fertig. Noch ein Snack für zwischendurch und zurück zur Arbeit. Aber diesmal komme ich nicht bis zum Platz. Am Eingang des Einkaufszentrums sehe ich eine Gruppe von Schülerinnen, die gerade eine Handtasche bewundern, die eine von ihnen gekauft hat. Dabei lassen sie ihre eigenen Handtaschen vollkommen aus dem Blick. Zudem stehen sie genau in der Ecke, die nicht von den Kameras überwacht wird. Diese hat mir mein Onkel vor Jahren gezeigt. Wie eine Einladung zu einem Drei-Sterne-Menü. 
Den In-die-U-Bahn-rennen - Trick kann ich hier nicht anwenden. Daher muss ich das Opfer anders ablenken.
Ich gehe schnellen Schrittes an der Gruppe vorbei und remple die Zweite an, während meine Hand in die Handtasche der ersten wandert. Ich bleibe stehen und entschuldige mich bei ihr, während sie mich anschnauzt. Ich gehe langsam Rückwärts, wiederhole meine Entschuldigung, während sie wie erwartet ihre Handtasche überprüft und dort das Portemonnaie vorfindet. Die andere, deren Portemonnaie ich nun habe, fühlt sich unbeteiligt, so dass ich trotz Beschimpfungen das Alexa mit mehr Geld als vorher verlassen kann, nachdem sich die Angerempelte beruhigt hat. 
Draußen suche ich mir wieder eine Haltestelle, aber abseits vom Alexanderplatz. Eine Geldbörse mit Blumenmuster bei einem Geschäftsmann in einer Menschenmenge ist zu auffällig.
Ich finde 200 Euro. “Da hat wohl jemand Taschengeld bekommen.”, denke ich und stecke sie zurück in meine Tasche. “340 Euro sind für heute ausreichend.”, entscheide ich, gehe zum U-Bahnhof und steige in die U 8 Richtung Wittenau. Ich wohne in einem Haus mit meinem Onkel in Reinickendorf. Auf den Weg zur U-Bahn sehe ich meine beiden Opfer nicht mehr. “Ob sie schon von ihrem Verlust erfahren haben?”, frage ich mich und grinse bei dem Gedanken, wie das Mädchen sich eine neue Handtasche kauft, und sie nicht bezahlen kann.
Nach einigen Minuten erreiche ich den Bahnhof “Rathaus Reinickendorf” und steige aus. Es ist mittlerweile später Nachmittag. Auf dem Weg nach oben sehe ich eine ältere Dame, ich schätze sie auf 60, am Treppeneingang stehen. Sie hält ein Iphone an ihr Ohr und redet in einer fremden Sprache. Über ihre Schulter hängt eine offene Handtasche, bis zum Rand mit Papieren und Mappen gefüllt. Die Geldbörse oben auf. 
Ohne zu denken beschleunige ich, remple und greife. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Ich brauch mich nicht mal entschuldigen, die Frau scheint keine Notiz von mir genommen zu haben. Umso besser.
Noch fünf Minuten bis nach Hause. Auf dem Weg entledige ich mich dem Portemonnaie des Mädchens, indem ich es in einem unbeobachteten Moment in ein Gebüsch werfe, während das Geld in meine Tasche wandert. Die Beute vom Rathaus werde ich Zuhause begutachten.
Als ich dort eintreffe, sitzt er bereits unten in der Küche. Vor sich sein abendlicher Wodka.
“Jackpot dabei?”, fragt er mich wie jeden Tag.
“340 plus das hier.”, sage ich und zeige ihm die Geldbörse der alten Dame. 
“Was ist da drin?”
“Weiß noch nicht, werd es gleich herausfinden.”
Ich gehe nach oben in den ersten Stock, wo sich meine kleine Wohnung befindet. Dort setze ich mich auf mein Bett und schaue in die Geldbörse. Zu meiner Überraschung ist diese fast leer. Keine Papiere, kein Geld. Nicht mal Centstücke. In dem Fach, wo sich eigentlich die Geldscheine befinden sollten, finde ich nur ein Stück dünne Pappe in der Größe einer herkömmlichen Spielkarte. Sie ist auf einer Seite mit einer Schwarz-Weiß-Skizze bedruckt, dass eine alte Frau zeigt. Diese liegt auf einem Weg oder einem Fluss, mit halb geöffneten Augen und schaut in den Himmel. Als würde sie jeden Moment sterben. Als würde sie diesen Moment herbei sehnen. Neben der alten Frau sind auf der Karte Verzierungen und Zeichen, die ich nicht zuordnen kann. Möglicherweise eine fremde, lange vergessene Sprache. Zudem auch Symbole, die mir bekannt sind. Eine Mondsichel, sowie drei Kreuze, die die Eckpunkte eines Dreiecks bilden, dass die Frau umschließt.
Ich beschließe die Karte zu behalten. Auch wenn ich nichts damit anfangen kann, könnte sie was wert sein. Ich stecke sie zusammen mit dem Geld, dass ich heute eingenommen habe, in eine Box unter meinem Bett. Damit falle ich bei keiner Bank mit “unversteuerten Einnahmen” auf.
Ich gehe nochmals runter ins Erdgeschoss zu meinem Onkel, sage ihm, dass die letzte Geldbörse leer war und frage nach Abendessen. Wie fast immer bekomme ich die Antwort “Bestell dir ne Pizza!”. Nur selten gibt es bei uns im Haus eine gemeinsame Mahlzeit. Da ich diesmal keinen Appetit auf Fast Food habe, beschließe ich einen Abend mit Chips vorm Fernseher. 

Ich werde Stunden später von einer Sirene geweckt. Ich liege auf meinem Bett, mit der Chipstüte unterm Arm, der Fernseher läuft noch. Ich denke zuerst, das Geräusch kommt von dort. Dann nehme ich einen Geruch wahr und ich realisiere, dass es der Feueralarm ist.
Ich ziehe mir schnell eine Jeans drüber und renne nach unten. Die Küche steht bereits lichterloh in Flammen, der Rauch ist so dicht, dass ich nicht sehen kann, was in den anderen Räumen ist; wo mein Onkel ist. Ich vermute, dass er bereits draußen ist und renne durch die offen stehende Tür nach draußen, wo ich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder Luft holen konnte. Erst jetzt sehe ich den Ursprung des Feuers: Unseren Keller. Die Flammen gucken aus den Kellerfenstern wie die Hälse der Drachen, die die Küche anfressen. Auch die beiden Nachbarhäuser sind von den Flammen im Keller betroffen.
“Brandstiftung!”, vermute ich. Wie sonst können mehrere Keller gleichzeitig Feuer fangen?
In der Ferne höre ich bereits die Sirenen der Feuerwehr. Ich schaue mich um. Mein Onkel steht nicht auf der Straße. Unter den viele Gesichtern, Schaulustige, Betroffene, kein bekanntes. 
Ich überlege, ob ich wieder rein soll und ihn retten, als es plötzlich zu einer Explosion kommt, die die Mauern zerfetzte und die herumstehenden Personen umwarf.

Am nächsten Morgen wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Fünf Reihenhäuser wurden von den Flammen und der Explosion zerstört. Neben der verkohlten Leiche meines Onkels wurden von der Feuerwehr drei weitere Leichen geborgen. Das ältere Ehepaar, dass neben uns wohnte, sowie ein Gaffer, der bei der Explosion von einem Trümmerteil erwischt wurde. Viele weitere wurden verletzt. Ich gehöre glücklicherweise nicht dazu. Ich habe zwar alles verloren, außer die Hose, die ich anhabe, aber mir geht es gut. Nachdem die Feuerwehr eintraf, weigerte ich mich ins Krankenhaus zu gehen, um mich untersuchen zu lassen. Stattdessen fuhr ich mit der U-Bahn zum Alexanderplatz und wartete dort auf den Morgen. 
Dort sitze ich immer noch. Ohne Haus, ohne Anzug, in einem Unterhemd, mit dem bisschen Geld von gestern. Ich frage mich wohin. Nach dem Tod meiner Eltern kam ich zu meinem Onkel. Ich hatte nie viel Kontakt zu anderen. Jetzt bin ich allein. Ich könnte zwar zu einem meiner Bekannten gehen, aber diese wissen nichts von meiner Tätigkeit. Und es soll auch so bleiben.
Ich entschließe mich zu einem Spaziergang durch die Stadt. Vielleicht habe ich Glück und finde etwas.
Nach etwa einer halben Stunde erreiche ich das Brandenburger Tor. Dort kaufe ich mir eine Bratwurst, als ich die Karte der alten Dame in meinem Portemonnaie sehe. Ich dachte, ich hätte sie im Haus gelassen und sie wäre dort verbrannt. Da ich nichts zu verlieren habe, frage ich den Verkäufer, ob er mir etwas über diese Karte sagen kann. Vielleicht kann sie mir noch nützlich sein.
“Tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Sieht mir aus wie eine Tarotkarte, aber ich weiß es nicht.”
Wie ich erwartet habe. Ich bedanke mich, nehme mir die Bratwurst und stecke gerade die Karte zurück in meine Tasche, als der Verkäufer sagt: “Ich kenne jemanden, der vielleicht helfen kann. Sie ist Kartenlegerin, allerdings ist sie nur nachts erreichbar. Wo wohnen Sie, wenn ich fragen darf?” Ich weiß keine Antwort. Achselzuckend sage ich “In der Spree!” und teile ihm mit meinen Blicken mit, dass er nicht erneut fragen soll. “Na gut... Wie wäre es, wenn wir uns heute Abend um 22 Uhr erneut hier treffen, dann zeige ich ihnen den Weg. Die Frau ist ein wenig menschenscheu, daher ist es besser, wenn ein bekanntes Gesicht dabei ist.”
“Was habe ich schon zu verlieren?”, sage ich. 
Ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht würde ich dort Obdach finden. Die Frau und der Verkäufer sind eindeutig nicht ganz sauber.  Wer weiß, was sich daraus ergibt.
Die Wartezeit überbrücke ich, in dem ich mir “Unter Den Linden” Hemd, Anzug und literweise Kaffee kaufe. 
Als es endlich dämmert, stehe ich bereits am Brandenburger Tor. Nach wenigen Minuten kommt der Wurstverkäufer. Er trägt nun ebenfalls einen Anzug, anstatt seiner Grillschürze. 
“Wie ich sehe haben Sie sich umgezogen.”, sagt er. Ich gehe nicht darauf ein. “Führen Sie mich bitte zu Ihrer Bekannten.”, sage ich ruhig. 
Er ging voraus, ohne Worte folgte ich ihm. Als wir zur Spree gelangen, bittet er mich, ihm nochmals die Karte zu zeigen. Ich hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche, nehme die Karte heraus und halte sie ihm hin. Doch anstatt der Karte greift er sich das Portemonnaie, reißt es aus meiner Hand und stößt mich rückwärts mitsamt der Karte in die Spree. Ich stoße einen kurzen Schrei aus und tauche unter. Als ich meine Kopf wieder über Wasser bekomme, sehe ich noch, wie er mit meinem restlichen Geld die Straße entlang davon läuft.
“Dreckschwein!”, schreie ich ihm hinterher. Dann spüre ich plötzlich wie etwas an meiner linken Hand zieht, erst leicht, dann immer stärker, so dass es mich nach unten reißt. Ich merke, dass es die Karte ist, die plötzlich so schwer wie ein Haufen Ziegelsteine ist. Ich versuche meinen Griff zu lockern, die Karte loszulassen, doch ich kann meine Finger keinen Millimeter bewegen. Ich bin bereits am Grund der Spree angekommen, versuche meinen Kopf über Wasser zu kriegen. Ohne Erfolg. Es ist, als wäre mein Arm am Flussbett festbetoniert. Rütteln, ziehen, stoßen, während mir die Luft aus geht und ich schließlich das Bewusstsein verliere. 

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